Zur Restauration eines Sakramentes
Walter Hoeres
…
Es wird uns versichert, daß man sich nach der Beichte wieder deutlich wohler fühle, denn man habe sich nunmehr im Beichtgespräch mit Gott ausgesprochen und wieder versöhnt und der Priester habe einem „diese Versöhnung zugesprochen“: eine ungemein typische und zeitgemäße Formulierung für den Empfang des Bußsakramentes! Die Psychologisierung setzte schon bald nach dem Konzil ein, als es üblich wurde, die traditionellen Beichtstühle durch Beichtzimmer zu ersetzen, in denen nicht wenige Priester sich nun redliche Mühe gaben, nicht nur, aber auch als Lebensberater zu fungieren. Wer beschreibt mein Erstaunen, als ich mich zu dieser Zeit zu einer regulären Andachtsbeichte einfand und der Pater mir als „Buße“ auftrug, mir eine Schrift zu besorgen, die – soweit erinnerlich – in völlig säkularer Weise und ohne jeden religiösen Bezug das Thema „Mut zum Leben“ behandelte! In einstudierter Weise versicherte er mir, wir hätten alle Angst vor dem Leben und vor allem vor dem Tode und deshalb bedürfe es dieser Aufmunterung. Ein Wunder, daß er einem nicht sogleich Valium verordnete!
Verschwimmende Gnade
Es mag sich um ein Extrembeispiel handeln. Dennoch ist die psychologische, ja medizinische Betrachtung der Beichte kein Zufall. Sie hat ihren Grund darin, daß die Gnadenlehre seit der Preisgabe der klassischen Metaphysik und der scholastischen Ontologie, also der Seinslehre, wie sie sich im Raum der Kirche entfaltet hat, ins Schwimmen geraten und zugleich seltsam ortlos geworden ist. „Gnade“ wird nun nicht mehr als seinsmäßige Qualität verstanden, die der Geistseele im Sakrament der Taufe eingegossen und durch den häufigen Empfang der Sakramente als helfende Gnade, als Glaubenslicht und übernatürliche Liebe vermehrt wird. Gnade, so wird uns heute nach dem Abgesang auf die Seinslehre und den „Substanzialismus“ der Scholastik und des Tridentinums versichert, bedeute, daß Gott sich auf uns einlasse, daß er uns nicht alleinlasse, daß er uns so annehme, wie wir nun einmal sind, und uns so seine Liebe, sein Wohlwollen, seine Zuwendung schenke. Wenn aber die Gnade auf diese Weise nicht mehr als reale, neue, übernatürliche, verklärende und vergöttlichende Beschaffenheit der Seele begriffen wird, dann ist sie nur noch ein ebenso allgemeiner wie verschwommener Ausdruck für die Barmherzigkeit Gottes, der uns erlöst hat und für uns das Beste will. Wie von selbst gleicht sich so der katholische dem protestantischen Gnadenbegriff an, der nun keine Qualität mehr meint, die uns auf ganz neue und reale Weise Gott ähnlich sein läßt, sondern nur noch die Barmherzigkeit Gottes, der unsere Sünden nicht tilgt, sondern nach dem Motto „Schwamm darüber“ zudeckt und uns nicht mehr anrechnet.
So wird die Barmherzigkeit Gottes mit dem gleichgesetzt oder verwechselt, was sie in uns bewirkt. Und es ist allein diese Konfusion gewesen, die die Gemeinsame Augsburger Rechtfertigungserklärung bewirkt hat: ein Etikettenschwindel, der geflissentlich eben dies ignoriert, daß „Rechtfertigung“ hüben und drüben bei gleichem Wortklang doch etwas anderes bedeutet, da die Protestanten unsere Auffassung der Gnade weder kennen noch akzeptieren. Kein Wunder, daß sich post festum mehr als hundert prominente evangelische Theologen mit Entrüstung von dieser Erklärung distanzierten und auf katholischer Seite kein geringerer als Kardinal Scheffczyk in seinen Stellungnahmen von bestechender Klarheit in der Zeitschrift „Theologisches“ diese Deklaration einer vorgetäuschten Gemeinsamkeit einer ebenso abgewogenen wie vernichtenden Analyse unterzog.
Wenn die Gnade zudem in nichts anderem als in einer neuen Beziehung zu Gott besteht, so erfreulich diese auch sein mag, dann stellt sich auch ganz einfach die Frage, wie diese Beziehung zu denken ist, da die heutige Theologie nach dem Abschied von Thomas von Aquin großenteils jede solide philosophische Grundlage vermissen läßt, um sich stattdessen wahlweise Kants, Schellings, Hegels, Fichtes oder Heideggers zu bedienen, die alles andere im Sinn haben, als sich über die Beziehung von Geschöpfen zu einem persönlichen Gott oder über die Erneuerung dieser Beziehung durch die Gnade den Kopf zu zerbrechen.
Bei aller gebotenen Ehrfurcht läßt es sich im Übrigen nicht bestreiten, daß die Gnadenlehre durch den „theologischen Weg Johannes Pauls II. zum Weltgebetstag der Religionen in Assisi“, den Johannes Dörmann in seinem gleichnamigen großen Werk so eingehend analysierte, einen schweren Schlag erlitten hat. Denn es läßt sich gar nicht bestreiten, daß die Theologie schon des damaligen Kardinals Wojtyla, die Papst Johannes Paul dann in seinen drei großen Lehrschreiben zusammenfaßte, vorsichtig formuliert, immer wieder den Eindruck erweckt, daß die ganze Menschheit schon durch das Ereignis der Inkarnation auf immer mit Christus verbunden, in Ihm geeint und folglich der der Erlösung teilhaftig sei. So sind wir, wie uns der Heilige Vater immer wieder versicherte, allesamt mit der ganzen „Menschheit“ Pilger auf dem Weg hin zur Wahrheit und damit zu Christus, an dem wir – eben durch die Inkarnation – allesamt schon Anteil haben! Im Lichte der theologischen Überlieferung aber kann diese weltumspannende Konzeption nur als Katastrophe bezeichnet werden, weil sie den Unterschied zwischen der Gottebenbildlichkeit, die alle Menschen als geistbestimmte Wesen besitzen, und der übernatürlichen Ähnlichkeit mit Gott, die wir durch die Gnadenmittel der hl. Kirche erlangen, also den Unterschied zwischen „imago Dei“ und „similitudo Dei“ aufhebt oder bis zur Unkenntlichkeit nivelliert.
Man betrachte diesen Rekurs nicht als überflüssige Polemik und als Erinnerung an längst vergangene Zeiten. Der Skandal liegt nicht darin, daß wir an die fortlebende Zerstörung der katholischen Gnadenlehre erinnern, sondern daß das großangelegte Werk von Johannes Dörmann, das ihre Folgewirkungen so eingehend beschreibt, auch von „konservativen Theologen“ immer noch mit der größten Beflissenheit totgeschwiegen wird.
Heimatlose Gnade
Hinzu kommt, daß die Gnade und damit die Gnadenlehre selbst in der neuen progressiven Theologie seltsam ortlos geworden ist. Wir meinen die Polemik gegen die Existenz der Geistseele, die nach katholischer und feierlich definierter Lehre nach dem Tode als anima separata bestehen bleibt. Schon bald nach dem Konzil hat es sich in der Kirche eingebürgert, diese Lehre, nach der der Mensch aus Leib und Geistseele zusammengesetzt ist, die als prägende Form des Leibes verstanden wird, als „unbiblisches“ und „hellenisches“ Gedankengut zu verteufeln. Bedenklich unklar ist dann natürlich, was nach dem Tode bleibt. Nach dem Frankfurter Dogmatiker Prof. Medard Kehl SJ ist es so etwas wie das Ich mit seinen sozialen Beziehungen. Andere vertreten wieder die protestantische Ganztodtheorie, nach der der ganze Mensch im Tode zugrunde geht und sogleich wieder auferweckt wird, so daß sich auf diese Weise das Jüngste Gericht als besonderes Ereignis erübrigt. Nimmt man die neue Annahme vom „netten Gott“ hinzu, der uns alle dort abholt, wo wir nun einmal sind, und der schon dafür sorgt, daß wir alle, alle in den Himmel kommen, dann verstehen wir, daß heute allenthalben sogleich nach dem Tod frohe „Auferstehungsfeiern“ von weißgewandeten Priestern begangen werden.
Wenn aber auf diese Weise der Mensch als monolithisches Ganzes verstanden wird, das im Tode völlig zugrunde geht und wie Phönix aus der Asche sogleich wieder aufersteht, dann bleibt es bedenklich unklar, wo dann noch der Sitz der Gnade ist. Wenn sie sogleich und sozusagen in einem Atemzug unser ganzes Menschsein verwandelt, dann bleibt diese Wandlung in nebulöser Unbestimmtheit. Sie sinkt dann entweder zu einer bloßen Erbauungsphrase herab oder reduziert sich wieder auf ein neues Verhältnis zu Gott, der uns so annimmt, wie wir nun einmal sind. Zwar sind die theologischen Progressisten ganz sicher keine Materialisten. Wenn sie schon die klassische Lehre von der Gliederung des Menschen in Leib und Geistseele nicht akzeptieren, so leugnen sie doch nicht, daß es leibliche Akte gibt, die eine seelische Innenseite haben, wie das schon Pater Teilhard de Chardin SJ so eingehend ausführte. Zumindest würden die Progressisten konzedieren, daß unsere höheren Bewußtseinstätigkeiten diese beiden Seiten haben, sowohl organische als auch seelische Vorgänge zu sein, ohne daß hinter diesen ein eigenständiges Prinzip – eben die „Seele“ – anzunehmen sei.
Doch auf diese Weise kann natürlich keine Rede mehr davon sein, daß die Gnade unserer Seele geschenkt wird und von ihr aus dann auch in den Leib überfließt („redundat“), was ohne weiteres vorstellbar ist, wenn sie – eben! – die prägende Form des Leibes ist. Wollte man dennoch daran festhalten, daß die heiligmachende Gnade eine wirkliche übernatürliche Beschaffenheit ist, die uns in ganz neuer Weise Gott ähnlich macht, dann könnte man unter diesen Umständen allenfalls annehmen, daß sie eine besondere neue Qualität unseres Gehirns und der in ihm verankerten seelischen Dispositionen ist: eine Annahme, die sich von selbst erledigt. Auch die helfende Gnade wäre so nur als Abfolge dauernder neuer Eingriffe Gottes denkbar. Denn wohin sollte Gott das Glaubenslicht und den übernatürlichen ‚Habitus‘ der Liebe eingießen, wenn es keine Seelensubstanz und keine in ihr verankerten geistig-seelischen Fähigkeiten des Verstandes und Willens gibt?
Zuspruch oder Wiederherstellung
Unter diesen Umständen ist es kaum mehr möglich, das Bußsakrament vor allem im Falle der schweren Sünde als Wiederherstellung des Gnadenstandes, als neues Geschenk der heiligmachenden Gnade und damit der übernatürlichen Verwandtschaft mit Gott zu begreifen. Was die Versöhnung Gottes in uns tatsächlich bewirkt, bleibt ebenso unklar wie die Frage, warum wir uns deshalb zur Beichte bemühen müssen und warum nicht ein einfaches Bittgebet genügt, um die angestrebte Versöhnung wieder zu erreichen.
So wird verständlich, daß die Beichte in den Augen der Gläubigen, die entweder keinen vernünftigen Religionsunterricht mehr gehabt haben oder den Neuinterpreten erlegen sind, ihren sakramentalen, d.h. Reales bewirkenden Charakter verliert und zu einem bloßen Zuspruch und damit zu einer puren Bestätigung dessen wird, was ohnehin schon der Fall ist, nämlich der angestrebten Versöhnung, zu der nun ein einfacher Akt der Reue, des vertrauensvollen Bedauerns genügt. Unter diesen Umständen ist es kein Wunder, daß die Beichte selbst bei praktizierenden Katholiken fast ausnahmslos zum „verlorenen Sakrament“ geworden ist.
…