Dr. Heinz-Lothar Barth
Der engste Zusammenhang zwischen Altem und Neuem Testament, […] zeigt sich u. a. darin, dass die Psalmen, jenes zentrale Gebetbuch sowohl des alten Gottesvolkes, nämlich Israels, als auch des neuen, d. h. der Kirche, von den Christen immer auch in ihrer prophetischen Dimension theoretisch gesehen und in der Praxis so gebetet wurden.
Sechs Psalmen reden vom Messias
Aufschlussreich ist, was Maurus Wolter, der berühmte Abt von Beuron, zur messianischen Perspektive der Psalmen ausgeführt hat: „Eine hervorragende Stelle nehmen die streng prophetischen oder ausschließlich messianischen Psalmen ein, welche, auktoritativ oder durch innere Kriterien als solche verbürgt, buchstäblich auf Christus und die Kirche sich beziehen. Ihrer sind nach allgemeiner Annahme sechs, die Psalmen 2, 15, 21, 44, 71 und 109. Außerdem gibt es indes noch eine ganze Reihe von Liedern, welche zwar nicht dem Literalsinne nach, aber typisch oder im mystischen Sinne messianisch sind, d. h. welche durch ihren sekundären Sinn oder auch durch ihre liturgische Stellung eine Beziehung auf den Messias und sein Reich gewinnen.“
Psalm 21
So kann man in Wolters auch heute noch spirituell anregendem Standardwerk nachlesen: Psallite sapienter – „Psalliret weise!“ Erklärung der Psalmen im Geiste des betrachtenden Gebets und der Liturgie, Bd. I, Freiburg/B. 1871, X. Schauen wir uns konkret einen Psalm an, dessen gesamte Ausrichtung auf den Messias und sein Leiden im Literalsinn kaum zu bestreiten sein dürfte. Maurus Wolter schreibt zum Ps 21/22: „Unser Gesang ist nach constantem Zeugniß der Synagoge, der hl. Schrift N.T., der Väter und der Kirche (die die entgegenstehende Behauptung des Theodor von Mopsuestia, er sei nur durch Accommodation auf Christus zu beziehen, ausdrücklich verdammt hat) direkt und ausschließlich messianisch“ (a. O. 242). Valentin Thalhofer (Erklärung der Psalmen, 9Regensburg 1923, 156) spezifiiert und erläutert ein solches Urteil und macht es dadurch noch einsichtiger: „Aus Matth. 27, 35 ff.; Joh 19,24; Hebr 2,11 f. weiß der Christ, daß Ps. 21 messianisch ist. Die Behauptung des Theodor von Mops., derselbe beziehe sich nur auf David, und die neutestamentlichen Hagiographen haben ihn nur akkomodiert, ist von der Kirche verworfen. David hat niemals solches gelitten, wie das Subjekt unseres Ps.; wie hätte er oder ein anderer alttestamentlicher Gerechter (Ezechias, Jer., auf die man riet) von seinen Leiden einen Erfolg erwarten können, wie der hier geschilderte ist? Darüber zwar, ob der Psalm ausschließlich, oder nur typisch messianisch sei, ist die Kontroverse offen gelassen; die katholischen Ausleger sind fast alle für ausschließlich messianische Deutung, und mit Recht. In manchen Versen (z. B. 18. 19) ist die Schilderung so individuell[1], daß eine Deutung im niedern (historischen) und dann erst im höhern (mystischen) Sinne unmöglich ist; anzunehmen aber, manche Stellen beziehen sich n u r auf Christus, andre n u r auf David oder auf ihn und Christus zugleich, ist wegen Einheit des logischen Subjekts im ganzen Ps. unnatürlich.“
[1]Man muss allerdings zugeben, dass nicht alle Verse des Psalms so eindeutig auf das Leiden Jesu Christi im Wortsinn vorausweisen.
Erschienen in KU Dez 2016