Msgr. Michael Sailer

Die Betrachtung des Leidens Christi ist bei den meisten Menschen sehr fehlerhaft beschaffen! Sie stellen sich vor, als wenn Jesus Christus wirklich vor ihren Augen Blut schwitzte, gefangen, gegeißelt, gekreuzigt würde. Das ist recht; aber oft hält man sich nur bei den Schmerzen des Leidens auf und beherzigt nicht, warum und wie, mit welcher Geduld, Sanftmut und Liebe Er gelitten hat; ja, man meint, die Hauptsache sei getan, wenn man mit dem leidenden und sterbenden Heilande ein recht großes Mitleiden gehabt habe. Es ist ganz recht, wenn ein christliches Herz bei den Mißhandlungen des Erlösers ein großes Mitleiden empfindet.

Aber damit muß man nicht zufrieden sein; das muß man nicht als die Hauptsache ansehen. Warum wohl hat der heilige, unschuldige Jesus so mannigfaltige und unausstehliche Schmerzen erduldet, warum hat Er sich von den Juden und den Heiden, von Volk und Priestern, von Richtern und Anklägern so schrecklich mißhandeln lassen? Warum hat Er an Leib und Seele so unaussprechlich gelitten?

Neben dem, daß Er uns durch Sein allbelebendes Sterben von der Sünde erlösen wollte, war gewiß auch dies eine Ursache davon, daß Er uns, sozusagen, ein allmächtiges und in jeder Hinsicht vollkommenes Beispiel gäbe, wie wir, wir sündige Menschen, uns in unseren geringen, oft gar wohlverdienten Widerwärtigkeiten betragen sollen.

Christus hat für uns gelitten, schreibt der heilige Petrus (1. Pe 2,21) und euch ein Beispiel hinterlassen, damit ihr seinen Fußstapfen nachfolget. Diese wenigen Worte unterrichten uns, wie wir das Leiden und Sterben Jesu Christi betrachten sollen.

Darin besteht die wahre Andacht zu dem leidenden und sterbenden Jesus, daß wir (nebst dem, daß wir die Sünden, die Ihn ans Kreuz gebracht haben, von Herzen verabscheuen) das Beispielreiche in seinem Leiden und Sterben genau heraussuchen, aufmerksam überdenken und getreu in unserem Wandel widerspiegeln.

Darin besteht die wahre Andacht zu dem leidenden und sterbenden Jesus, daß wir Seinen vollkommenen Gehorsam gegen den Willen des himmlischen Vaters, Seine unermeßliche Liebe gegen uns Menschen, Seine wahrhaft göttliche Geduld und Sanftmut in den schrecklichsten Leiden oft bei uns ernsthaft erwägen und unser Reden und Schweigen, unser Leiden und Dulden danach einrichten.

Darin besteht die wahre Andacht zu dem leidenden und sterbenden Jesus, daß wir an den Gekreuzigten glauben wie Paulus und Seiner Liebe nachfolgen wie Johannes. Darin besteht die wahre Andacht zu dem leidenden und sterbenden Jesus, daß wir als wahre Jünger Jesu leiden, wie Er gelitten hat; als wahre Jünger Jesu gehorsam seien, wie Er lebte und starb.

Wer die Geduld, wie die Sanftmut, die Zufriedenheit mit Gott im Leiden aus der Betrachtung des Leidens Jesu Christi noch nicht gelernt hat, der hat das Leiden Jesu Christi noch nie recht betrachtet.

Wer aus der Betrachtung des Leidens Christi noch nie gelernt hat, auf Gott zu vertrauen, auch wenn Er verwundet; zu Ihm aufzusehen, wenn Er auch sein Angesicht verbirgt; Ihm zu danken, wenn Er schlägt; Ihn mit ausharrendem Vertrauen anzurufen, wenn Er seine Hilfe zu verzögern scheint; der mag Alles verstehen, aber die leichte und, wenn ich so sagen darf, kunstlose Kunst, das Leiden Christi nutzbringend zu betrachten, versteht er nicht.

Wer aus der Betrachtung des Leidens Christi noch nicht gelernt hat, Böses mit Gutem zu vergelten, den Flucher zu segnen, den Hasser zu lieben, den Beleidiger zu umarmen – er mag große Dinge kennen – seinen Herrn und Meister, sein Beispiel, Jesus Christus, kennt er noch nicht: Jesus Christus und den, der Ihn gesandt hat, liebt er noch nicht. Und daran ist doch alles gelegen. Lasset uns darum, wenn wir das Leiden Christi betrachten, es so betrachten, daß wir uns dabei Sein heiliges Beispiel vor Augen stellen und uns aneifern, Seinen heiligen Fußstapfen nachzufolgen!

Erschienen in KU Nov 2011